Alle Inhalte dieser Site sind urheberrechtlich geschützt; Copyright © C. Ozdoba
Logo der Website „Klassische Philatelie“

Grossbritannien – Einleitung zu den klassischen Ausgaben – Teil 1

GB Ausgabe 6. Mai 1840
 
6. Mai 1840: Die ersten Briefmarken der Welt

      Lange, sehr lange hat es gedauert, liebe Leserinnen und Leser, bis Sie die legendäre „Penny Black“, ihre etwas weniger populäre Schwester, die blaue Two Pence, und die erste Ganzsache der Welt, den ebenfalls in den Wertstufen 1 Penny und 2 Pence verausgabten Mulready-Umschlag (Gültigkeitsdatum aller drei Ausgaben ab 6. Mai 1840), auf dieser Website fanden.


Stanley Gibbons 1979
 

      Das lag nicht etwa an mangelndem Interesse – im Gegenteil: Die Abbildung links zeigt die 1979 erschienene sechste Auflage des Stanley-Gibbons-Spezialkatalogs Queen Victoria, den ich jetzt seit mehr als dreissig Jahren in meiner Bibliothek habe. Warum also stelle ich Ihnen die berühmten britischen Erstausgaben erst jetzt vor?

      Ich muss gestehen, dass ich mich diesen ersten überhaupt ausgegebenen Briefmarken mit einem gewissen Respekt genähert habe. Beschäftigt man sich mit der Penny Black und ihren Zeitgenossen, hat man es nicht einfach mit irgendeiner klassischen Ausgabe zu tun. Hier geht es um die Anfänge der Philatelie – bei wohl kaum einer anderen Ausgabe der Welt sind so viele Bücher nicht nur über die Marke selbst, sondern auch über die politischen, postalischen und sozialen Hintergründe ihrer Entstehung geschrieben worden. Was kann ich da auf einer bescheidenen privaten Website beitragen?

      Nichts Neues, so viel ist sicher. Trotzdem lohnt es sich vielleicht doch, hier wenigstens eine kurze Übersicht zu geben.

GB Blockausgabe 350 Jahre Bishop-Stempel
 
Grossbritannien hat eine reiche und interessante Postgeschichte. Dieser sehr schön gestaltete Gedenkblock „350 Jahre Poststempel“ (der Bishop-Stempel wurde 1661 eingeführt) zeigt einige besonders interessante Stempel aus diesen 350 Jahren.
(Copyright © Stamp Design Royal Mail Group Ltd 2011; Grosses Bild)

 

Rowland Hill: Post Office Reform


Liechtenstein MiNr. 503 (5. 12. 1968)
 

      Den Namen Rowland Hill hat sicher jeder Philatelist schon einmal gehört. Bekannt ist er den meisten wohl als „der Mann, der die Briefmarke erfand“. Das ist grundsätzlich richtig (auch, wenn die Familien Hill und Chalmers drei Generationen lang über diese Frage gestritten haben; mehr dazu auf der zweiten Seite dieser Einleitung), aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Hills berühmte Schrift Post Office Reform: Its Importance and Practicability hatte keineswegs die Einführung von Marken zum Thema; ihm ging es um wesentlich mehr.

      Das britische Postwesen war im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts tatsächlich dringend reformbedürftig. Es war teuer, es benutzte ein kompliziertes Tarifsystem, und die bestimmten Personen und Institutionen gewährte Portofreiheit für ihre Korrespondenz wurde über Jahrzehnte massiv missbraucht, was der Royal Mail erhebliche Einnahmen entzog.
      Beispiele für diesen Missbrauch findet man bei Willcocks und Rigo de Righi (dessen sehr lesenswerte Monographie einen ebenso kompakten wie umfassenden Überblick über die Post Office Reform und die Geschichte der Marken und Umschläge gibt und die ich jedem am Thema interessierten Sammler uneingeschränkt empfehle): Die Abgeordneten des Ober- und Unterhauses etwa mussten den Faltbrief (1) nur auf der Vorderseite signieren, und die Sendung war portofrei. Es war übliche Praxis, Dienstboten als Trinkgeld einen leeren unterschriebenen Briefbogen zu überreichen, und für ein Wochenende auf dem Landsitz eines Freundes bedankte man sich beim Gastgeber durch das dezente Hinterlassen eines halben Dutzend unterschriebener Briefbogen im Gästezimmer. Firmen und Banken nahmen Lords und Mitglieder des Unterhauses gerne in ihr Board of Directors auf – dies erlaubte, die geschäftliche Korrespondenz der Bank über diese Mitarbeiter portofrei zu erledigen.


Eigenhändige Unterschrift von Rowland Hill (1858)
 

      Die Post versuchte mit verschiedenen Massnahmen, diesem Missbrauch zu begegnen; eine der wirksamsten war die 1784 eingeführte Regel, dass ausser der Unterschrift und der Adresse (letztere 1764 eingeführt) auch Ort und Datum handschriftlich vom Portofreiheits-Inhaber geschrieben sein mussten. Diese Massnahmen führten zwar regelmässig zu einer Reduktion des Missbrauchs durch Private, gleichzeitig verlor die Post aber wieder durch eine zunehmende Anzahl von Institutionen, denen offiziell Portofreiheit gewährt wurde. Willcocks schreibt als Bilanz lapidar „Generally speaking, the problem was beyond control“.

      Hill hatte für seine Denkschrift zur Postreform alle verfügbaren Unterlagen zum Betrieb der Post umfassend analysiert und dabei Interessantes herausgefunden: Die effektiven Kosten für den Transport eines Briefes lagen bei etwa einem Drittel Penny – die Post erlaubte sich allerdings, für den Transport eines solchen Briefs (wir reden immer vom „Standardbrief“ von einer halben Unze Gewicht) von London nach Edinburgh 1s 1½d (einen Schilling und eineinhalb Pence) zu berechnen! Zwei Vergleichszahlen dazu (aus Rigo de Righi): Ein Industriearbeiter verdiente in dieser Zeit etwa 6½ bis 7½ Schilling pro Woche, und vier Pence 1840 entsprachen etwa zwei Pfund 1980!

      Die wesentlichen Punkte der Hill’schen Reform waren:

      Es gab innerhalb Londons schon seit 1680 eine Einrichtung mit dem programmatischen Namen Penny Post, die bereits 1683 dem staatlichen Post Office unterstellt worden war. Hill dachte aber in grösserem Rahmen – sein Konzept des Penny-Post-Einheitstarifs umfasste das gesamte Vereinigte Königreich.

 

Begeisterung bei der Wirtschaft, nicht bei der Post

      So logisch die vorgeschlagenen Reformen uns heute, gut 170 Jahre später, auch erscheinen – die britische Post war dagegen. Lord Lichfield, damals Postmaster General, äusserte sich nicht sehr begeistert über die vorgeschlagenen Reformen. Unterstützung für Hill kam dagegen aus den Kreisen der Wirtschaft und von den Gruppen, die sich für eine verbesserte Bildung der breiten Massen einsetzten.
      Man muss dabei sehen, dass das frühe 19. Jahrhundert eine enorm dynamische Zeit war: Die Wirtschaft wuchs, die Geschäftswelt versandte zunehmend Preislisten, Rechnungen, Verträge, Muster – damit erklärt sich das Interesse dieser Gruppe an vereinfachtem und vor allem preiswerterem Briefverkehr.
      Gleichzeitig wanderten Tausende aus den ländlichen Gebieten in die Industriebetriebe der Städte ab. Handel und Gewerbe brauchten gut ausgebildete Mitarbeiter; lesen und schreiben zu können, wurde zunehmend wichtiger. Wie aber sollte man die städtische Bevölkerung dazu motivieren, dies zu lernen, wenn ein einfacher Brief an die Familie auf dem Land schon einen Tageslohn kostete? Diesen Aspekt der Postreform hatte ich, von den Briefmarken her kommend, vorher nie gesehen; die Literatur zum Thema machte mir allerdings klar, als wie wichtig diese soziale Komponente der Postreform damals angesehen wurde. (2) (Vielleicht habe ich Ihnen ja jetzt doch etwas Neues vermittelt?)

      Tatsächlich vervielfachte sich das Postaufkommen mit der Umsetzung der Hill’schen Reformen in einem selbst von Optimisten kaum für möglich gehaltenen Ausmass:
      1839, im Jahr vor der Umsetzung der Reformen, hatte die britische Post 76  Millionen gebührenpflichtiger Briefe befördert. 1850, zehn Jahre nach der Einführung der Post Office Reform, war diese Zahl auf 350 Millionen gestiegen! Offenbar hatte Hill die richtigen Ideen gehabt …

Weiter zur Seite 2 dieser Einleitung.


Fussnoten:

  1. Umschläge wurden in dieser Zeit noch nicht verwendet, Das Tarifsystem bezog u. a. die Anzahl der Blätter mit ein; ein separater Umschlag hätte also jede Postsendung automatisch verteuert. Postgeschichtlich orientierte Philatelisten kennen den Faltbrief: Das beschriebene Blatt wurde so gefaltet, dass man am Ende eine Adress-Seite und eine Rückseite hatte; letztere wurde z. B. zum Aufbringen des Siegels und oft für Transit- und Ankunftsstempel verwendet.
  2. Es gibt ein Buch, das sich speziell mit diesem Aspekt der Postreform beschäftigt. Sie finden das von Gavin Fryer und Clive Akerman herausgegebene Werk The Reform of the Post Office in the Victorian Era and Its Impact on Economic and Social Activity bei der Literatur zur Post Office Reform.

Literatur:


Links zu dieser Seite:


Zurück zur Sektion Postgeschichte / zur Sektion Grossbritannien / zur Startseite.


Copyright © 2012 – 2022 und verantwortlich für den Inhalt:

Erste Veröffentlichung am 12. Juni 2012, letzte Bearbeitung am 25. September 2022.


Adresse dieser Seite: https://www.klassische-philatelie.ch/gb/posthist/gb_intro.html

Durch das World Wide Web Consortium validierter Code gemäss dem Standard HTML 5