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Einleitung – Ein Stern oder zwei? Der Gummi-Fetischismus

Eine garantiert subjektive Betrachtung

      Lassen Sie sich vom Titel nicht irritieren – „Klassische Philatelie“ wird nicht zu dem, was unsere angelsächsischen Freunde als adult site bezeichnen. Die Liebe mancher Philatelisten zum Gummi ist aber manchmal schon etwas extrem …

      Sie kennen natürlich den Unterschied zwischen „ungebraucht“ und „postfrisch“, in den Katalogen üblicherweise so bezeichnet:

(★)  ungebraucht ohne Gummi      –      ★  ungebraucht      –      ★★  postfrisch

      Die erste Variante, ungebraucht ohne Gummi, soll hier nicht im Detail diskutiert werden. Es gibt Marken, die man nur so sammeln kann, weil der Gummi die Marken angreift (1), und es gibt Marken, die erst am Schalter gummiert wurden, so dass ungummierte ungebrauchte Exemplare keineswegs selten sind. In allen übrigen Fällen ist „ungebraucht ohne Gummi“ eine qualitativ schlechtere Erhaltungsstufe als „ungebraucht“ und ist entsprechend geringer zu bewerten.

      Hier geht es um den Unterschied zwischen ungebraucht und postfrisch, den Unterschied zwischen einem und zwei Sternen also.
      Dass die Rechnung für das Abendessen zu zweit höher ausfällt, wenn das Restaurant mehr Sterne hat, ist allgemein bekannt. Üblicherweise ist das kulinarisch Gebotene auch den Mehrpreis wert. Wie steht es mit dem „Preis-Leistungs-Verhältnis“ bei klassischen Briefmarken? Werfen wir einen Blick in den Michel Deutschland-Spezial, Band 1, Ausgabe 2017:

Gebiet Ausgabe MiNr. Preis ★ Preis ★★ Verhältnis
Bayern 1 Kr. 1. 10. 1850 3 II 120,– 200,– 1 : 1,67
Bayern 12 Kr. 1. 10. 1862 12 120,– 220,– 1 : 1,83
Bergedorf 4 S. 1. 11. 1861 5 30,– 55,– 1 : 1,83
Braunschweig 4/4 Ggr. 1. 3. 1857 9 b 100,– 250,– 1 : 2,50
Hannover 3 Gr. 1859 16 b 200,– 350,– 1 : 1,75
Helgoland 5 Sh./5 M. 1879 20 A 180,– 400,– 1 : 2,22

      Postfrische Exemplare kosten also minimal zwei Drittel mehr als ungebrauchte Stücke, ein Unterschied bis zum Zweieinhalbfachen ist möglich. Stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis noch?

      Sie haben natürlich schon längst gemerkt, wie meine Antwort auf diese Frage lautet: Nein.
      Bekomme ich für diesen beachtlichen Mehrpreis eine bessere Marke? Keineswegs – die Qualität einer Marke wird nach ganz anderen Kriterien definiert. Was bekomme ich also für mein Geld? Drei Quadratmillimeter mehr intakten Gummi!

→ Auktionshaus Dr. Reinhard Fischer, 179. Auktion, 12./13. März 2021
Los Nr. 1884
Deutsches Reich Ausgabe „Pfennige“ 1875
MiNr. 34a
Los Nr. 1885
Deutsches Reich Ausgabe „Pfennige“ 1875
MiNr. 34a

      Sehen Sie einen Unterschied zwischen diesen beiden Marken? Zweimal MiNr. 34a, beide mit Attest – die linke Marke ist allenfalls horizontal etwas besser zentriert.
      Zuschlag für die linke Marke: € 2300,–, für die rechte € 180,–. Der Unterschied erschliesst sich nur bei Betrachtung der Markenrückseiten: Die linke Marke ist postfrisch, die rechte ungebraucht.

      Ich höre schon die Kommentare: „Jetzt hat sich dieser Klugsch…wätzer aber selbst hereingelegt: Ich zahle für die bessere und seltenere Erhaltung, und in der Philatelie ist das, was seltener ist, nun einmal auch teurer!“
      Das klingt zunächst einmal plausibel. Postfrische Exemplare 150 Jahre alter Briefmarken sind sicher seltener als ungebrauchte, die Befestigung der Marken im Album mit einem Falz war bis weit ins 20. Jahrhundert die übliche Form, Briefmarken aufzubewahren. Also: „seltener“ stimmt, nur: ist das wirklich eine bessere Erhaltung?

      Ändern diese wenigen Quadratmillimeter Gummi wirklich etwas an der Qualität der Marke? Nein – siehe oben. Würden Sie eher die breitrandige Marke im Zustand ungebraucht oder das postfrische Stück mit „Lupenrand“ kaufen? Letzteres ist vermutlich immer noch seltener – aber besser? Sammeln Sie Briefmarken oder Gummiplättchen?

      Woher kommen diese immensen Preise für postfrische Klassiker? In der Zeit des Falzes fand niemand etwas dabei, dass eine ungebrauchte Marke einen Falz, Falzrest oder eine Falzspur hatte. In alten Katalogen findet man überhaupt nur Notierungen für „ungebraucht“ und „gestempelt“!
      Möglicherweise – das ist nur eine Vermutung von mir – kam diese unrealistische Suche und Sucht nach dem perfekten Gummi auf, als die Sammler moderner Ausgaben begannen, ihre Sammlungen nach hinten, in die Klassik-Ära, zu komplettieren. Ein Sammler von „Deutschland postfrisch“ wird eine Marke, wenn der makellose Gummi auch nur einen Fingerabdruck zeigt, allenfalls noch für die Frankatur verwenden, wenn sie nicht gleich im Papierkorb landet.
      Geht dieser Sammler mit den gleichen Ansprüchen an klassische Ausgaben, wird er, eben wegen der relativen Seltenheit, einen weit höheren Preis bezahlen müssen. Hat er deswegen die schöneren Stücke, die bessere Sammlung?

      „Der Begriff ‚postfrisch‘ hat in den letzten Jahrzehnten zweifelsohne eine ungesunde, übersteigerte Bedeutung erhalten […]. Marken ohne Gummi oder mit Teilgummi (★) sind durchaus sammelwürdig.“ (Michel 1971)

      Interessant ist dabei noch, dass diese Postfrisch-Enthusiasten, bei denen nichts die Integrität des perfekten Originalgummis stören darf, es völlig normal finden, dass ein Prüfer mit „schwarzer dokumentenechter Farbe“ (Prüfordnung des → BPP) ein Prüfzeichen auf eben diesen Gummi stempelt. Ich weiss nicht, was Sie davon halten – ich finde das irgendwie absurd.

      „Die semantische Frage, ob auf signierte Marken noch der hierzulande geheiligte Begriff ‚postfrisch‘ zutrifft, muß jeder für sich selbst beantworten.“ (T. Berndt)

      Ich achte bei Marken, die ich in meine Sammlung aufnehme, auf die bestmögliche Qualität, die ich mir leisten kann. Qualität – nicht Gummi! Ich akzeptiere, dass diese Stücke sehr alt sind, dass sie vor mir anderen Sammlern gehört haben (und nach mir anderen gehören werden – das ist schon fast philosophisch) und dass sie in anderen Zeiten anders behandelt wurden.

      Ich will niemandem den Spass an seinen postfrischen Stücken verderben, aber ich möchte den Sammlern, die sich diese „Edelversionen“ nicht leisten können, deutlich machen, dass „ungebraucht“ keineswegs „minderwertig“ bedeutet.

      „Die übertriebene Beachtung der Markenrückseite ist eine Marotte der Nachkriegszeit, die zum Wohle der Philatelie hoffentlich bald ihr Ende findet.“ (L. Tröndle)

      Das, worauf es philatelistisch ankommt – postgeschichtliche Einordnung einer Ausgabe, Zeichnung, Drucktechnik – hat nichts mit einem kleinen Stückchen mehr intakten Gummis auf der Rückseite zu tun!


Fussnoten:

  1. Die wohl bekanntesten Beispiele im Sammelgebiet Deutschland sind einige Ausgaben des Deutschen Reichs, die am 23. 6. 1935 verausgabten Marken (MiNr. 576–579) und die entsprechende Blockausgabe (Block MiNr. 3) zur Osteuropäischen Briefmarken-Ausstellung OSTROPA und die am 16. 3. 1936 ausgegebenen Marken zur Nordamerikafahrt des Luftschiffs LZ 129 (MiNr. 606–607). Die stark schwefelsäurehaltige Gummierung sollte entfernt werden; der Michel nennt hier nur Preise für den Zustand (*), also ungebraucht ohne Gummi.
    Dieses Thema ist durch die Ausgabe selbstklebender Marken wieder aktuell geworden, bei denen sich ebenfalls abzeichnet, dass es wahrscheinlich (! – genau weiss das noch niemand) besser ist, die Gummierung zu entfernen. Siehe dazu diverse Artikel zum Thema „Was tun mit den Selbstklebern?“ in der Michel-Rundschau (MiR 9/2007, S. 16; 12/2007, S. 68–70; 1/2008, S. 42; 7/2008, S. 28; 8/2008, S. 14).
    Spezielle Probleme gibt es mit den selbstklebenden Marken der USA, die nicht mehr vom Papier ablösbar sind (MiR 1/2008, S. 58; 9/2008, S. 75–76).

Literatur:


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Erste Veröffentlichung am 12. Juni 2005, letzte Bearbeitung am 5. April 2021.


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