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Postgeschichte – Renaissance-Briefe – Einleitung Teil 2


Frankreich, 17. 03. 1962, Mi.-Nr. 1385

      Im ersten Teil dieser Einleitung habe ich auf eine Besonderheit der Vorstempelzeit hingewiesen: Alles auf diesen Briefen ist handschriftlich vermerkt. Adresse, allfällige Angaben zum Leitweg, Porto- und Franco-Vermerke – Stempel gab es einfach noch nicht.
      Wir müssen uns also mit den Handschriften des 15./16. Jahrhunderts beschäftigen. Schrift wird damit das erste Thema auf dieser Seite.
      Die Währungen haben sich natürlich ebenfalls geändert; heute wüssten wahrscheinlich auch viele Engländer nicht mehr, wofür ein Groat stand.
      Schliesslich fällt auch noch die Gregorianische Kalenderreform in die Renaissance. Es waren nicht alle Länder in der Umsetzung so zögerlich wie Griechenland, aber die Umstellung geschah auch nicht überall gleichzeitig – man sollte das im Auge behalten.

 

Schrift & Sprache

      Da mein Interesse an Renaissance-Briefen mit der Corsini-Korrespondenz begann, habe ich mich bisher ausschliesslich mit den englischen Handschriften dieser Epoche beschäftigt. Inzwischen sind italienische und französische Briefe aus der Zeit dazugekommen, aber ich bin weit davon entfernt, allfällige Unterschiede differenziert beurteilen zu können.

 
      Betrachten wir diesen Brief aus der späten Vormarkenzeit (1835 war die Post Office Reform mit der Einführung der Briefmarke nur noch fünf Jahre entfernt). Die Adresse ist problemlos lesbar:

London three August 1835
The Rev(erend)
Dr Corbett
Wortley Hall (1)
Sheffield
 
 
Der Brief wird auf der Seite Portofreiheitsvermerke (Free Franks) in der Sektion Grossbritannien vorgestellt.

      Gehen wir 250 Jahre weiter zurück: Dieses Schreiben wurde 1590, in der Spätrenaissance, auf die Reise geschickt.
      Bitte ganz ehrlich:
Erkennen Sie auf den ersten Blick, an welchen Empfänger an welcher Adresse dieser Brief gerichtet ist?
 
Adressiert ist er
To my loving friend Mr Philipp Corsin dwelling in Gracious Street right over agaynst the condict in London.
      Dieser Brief ist übrigens ein Schmuckstück meiner Corsini-Sammlung; er ist einer von nur 8 (aus der 3600 Briefe umfassenden Korrespondenz), die innerhalb Londons versandt wurden.

      Die Unterschiede zwischen diesen Briefen sind evident, aber versuchen wir doch einmal, die Eindrücke zu strukturieren:
      Als erstes fällt die im Stil („my loving friend“ – in Geschäftskorrespondenz) und in der ausführlichen Beschreibung der Lokalität ungewöhnliche Adresse des alten Briefs auf. Auch das elisabethanische London war mit ca. 30 000 Einwohnern im Jahr 1650 (2) schon eine sehr bevölkerungsreiche Stadt, und natürlich gab es Strassennamen. Trotzdem findet man die Nennung des Conduits, der Wasserleitung an der Gracious Street, relativ häufig. (Beale/Almond/Archer diskutieren die Adresse sehr ausführlich.)

      Das Auffallendste ist aber sicher die Handschrift, die für heutige Leser gar nicht mehr ohne Weiteres zu entzifffern ist. Diese Schrift wird als Secretary Hand bezeichnet. „Throughout the 16th century and up to the Civil War, the secretary script was the normal handwriting for correspondence, literature and business“ heisst es im Klappentext des Buches von Dawson und Kennedy-Skipton (3).

      „Secretary“ hat einige sehr spezielle Eigenheiten, die ich natürlich hier nicht im Einzelnen erläutern kann – schliesslich sind (sehr gute) Bücher dazu geschrieben worden. Ausserdem gibt es eine Vielzahl von Online-Lernprogrammen (s. Links unten auf dieser Seite). Egal, ob Sie Buch oder Bildschirm bevorzugen: Man muss einige Zeit und Arbeit investieren. Ich habe gerade erst damit begonnen; es geht sehr langsam voran …

      Hat man einen in secretary script geschriebenen Text transkribiert, wird man im nächsten Schritt mit einer Eigenheit der englischen Sprache der Tudor-Ära konfrontiert, die für uns heute im Zeitalter von Duden und offiziellen Rechtschreibreformen fast nicht vorstellbar ist: Es gab keine standardisierte Orthographie. Es werden heute zwar Generationen von Schülern mit dem Konzept des „Schreibens nach Gehör“ verdorben, aber was heute ein Experiment selbst ernannter Reformpädagogen darstellt, war im englischen Sprachraum vor 450 Jahren Standard. Schauen wir noch einmal bei Dawson/Kennedy-Skipton nach:
      „Any spelling that would clearly indicate a particular spoken word was good enough. For most people a word was a sound or a series of sounds, not a prescribed series of letters.“ Das geht so weit, dass wir nicht nur bei verschiedenen Schreibern unterschiedliche Schreibweisen eines Wortes finden, sondern dass man sogar in einem einzigen, von einer Person geschriebenen, Brief ein Wort in unterschiedlichen Schreibweisen finden kann.
Auf der Website → Scottish Handwriting gibt es eine schöne Empfehlung für die Leser:
      „Soe, if you want to improove your abilitie to rede handrittin documents, gett yoused to seaing wurds rittin foaneticallie.“
      (So, if you want to improve your ability to read handwritten documents, get used to seeing words written phonetically.)

      Falls ich Sie immer noch nicht davon abgeschreckt habe, sich mit englischen Renaissance-Briefen auseinanderzusetzen, ertragen Sie sicher auch noch die Information, dass die Interpunktion ebenso wenig standardisiert war wie die Orthographie. Punkte, Kommata und heute ungebräuchliche Schrägstriche wurden nach dem Verständnis heutiger Leser eher willkürlich verteilt (oder gar nicht gesetzt), Schnörkel am Zeilenende dienten als Lückenfüller – der Briefschreiber der Renaissance füllte üblicherweise Zeilen komplett ohne Rand, um eine spätere Änderung (Ergänzung) des Textes zu verhindern.

      Es gäbe noch viel zu sagen über die Schreibweise von Zahlen und die Verwendung von Abkürzungen, aber, wie bereits gesagt: Ohne eine gründliche Einarbeitung in die Paläographie dieser Zeit geht es nicht, und beim Durcharbeiten entsprechender Bücher oder Lernprogramme werden Sie diesen Aspekten sowieso noch begegnen.

Secretary wird abgelöst

      Nachfolger von Secretary wurde im Lauf des 16. Jahrhunderts allmählich die bereits im frühen 15. Jahrhundert entwickelte Schrift Italic (Chancery Cursive, Cancellaresca Corsiva). Bis zum späten 17. Jahrhundert war Secretary grösstenteils nicht mehr im Gebrauch. Die Italic mit einem geschwungenen, eher fliessenden Schriftbild ist für Leser heute wesentlich unproblematischer. Ich kann Ihnen diesen Unterschied mit zwei Briefen aus meiner Sammlung verdeutlichen:

      Beide Briefe stammen aus der Korrespondenz eines Antwerpener (Anvers) Händlers. Die → Familie de Lannoy war ein flandrisches Adelsgeschlecht; ich habe zu einem „marchant“ (heutige Schreibweise marchand) namens Jacques de Lannoy keine weiteren Informationen gefunden.
      Beide Briefe entstanden etwa zur selben Zeit: Der Brief links wurde 1665 in Roubaix geschrieben, der unten gezeigte 1666 in Valenciennes auf die Reise geschickt. Während der Kollege von Herrn de Lannoy in Roubaix noch die alte Secretary verwendete, hatte die Kanzlei des Händlers in Valenciennes schon auf die moderne Italic umgestellt.

 

      Wenn Sie Texte auf dem PC (auch für Mac/iOS verfügbar) in einer mittelalterlichen/Renaissance-Handschrift darstellen möchten, sollten Sie die Website der Firma → Crazy Diamond Design besuchen. Es gibt dort verschiedene Schiftarten, die auch Zeichen wie das Thorn, das lange s und spezielle Ligaturen beinhalten. Ein Beispiel zeigt die Abbildung links.

      Die Darstellung auf Websites ist (noch) nicht standardisiert. Eine Initiative von Mediävisten (MUFI; s. Links) arbeitet seit geraumer Zeit an einer entsprechenden Erweiterung der UTF-Codes.

 

Kalender

      Im Februar 1582 ordnete Papst Gregor XIII. mit der Bulle Inter gravissimas die heute nach ihm benannte Kalenderreform an, die in katholischen Ländern sehr kurzfristig umgesetzt wurde; andere Länder liessen sich deutlich mehr Zeit. Gemäss dieser Reform folgte, um Sonnenlauf und Kalenderdatum (und vor allem das in der katholischen Kirche wichtige Osterdatum) wieder zu synchronisieren, auf den 4. Oktober 1582 direkt der 15. Oktober. England führte die Reform erst 1752 ein; durch die bis dahin auf 11 Tage angewachsene Differenz zwischen Sonnenjahr und Kalenderjahr folgte auf den 2. September der 14. September.

      Durch die unterschiedlichen Kalender kam es im internationalen Postverkehr zu scheinbar enorm verlängerten oder verkürzten Brieflaufzeiten; ein Brief konnte, je nach verwendetem Kalender, sogar noch vor dem Aufgabedatum sein Ziel erreichen.
      Im Geschäftsleben waren solche Unstimmigkeiten natürlich sehr störend; bei Terminen geht es um Lieferverpflichtungen, Zahlungen, das Organisieren von Transporten. In der Corsini-Korrespondenz findet man – selten – vom Absender nach dem Datum angebrachte Vermerke OS oder NS für → Old Style bzw. New Style. Im Wesentlichen lebte man aber offenbar mit diesen Unterschieden.

 

Währung

      Unter Elisabeth I. wurde der im Mittelalter etablierte, aber unter ihren Vorgängern verwässerte Sterling-Standard wiederhergestellt, es gibt daher aus elisabethanischer Zeit nur Silber- und Goldmünzen. Das Fehlen niedrigwertiger Münzen führte im Alltag gelegentlich zu Problemen, aber erst unter Elisabeths Nachfolger James I. wurden Münzen aus geringerwertigen Metallen hergestellt. Das ist interessant für Numismatiker; für Postgeschichtler geht es eher um die Währungseinheiten und -paritäten als um das „Geld zum Anfassen“.

      Der Penny (zur Abkürzung „d“ siehe diese Seite) war die Grundeinheit; er wurde unter Elisabeth I. aus einem halben Gramm Silber geprägt, und er entsprach etwa dem Preis eines Laibs Brot. Während Elisabeths Regierungszeit stiegen die Preise allerdings im Mittel um 100–150 %, und gerade die Getreidepreise waren in hohem Masse von den jährlich wechselnden Ernteerfolgen abhängig. Zur Einordnung: Ein Schäfer bekam etwa 2½ Pence pro Tag, ein qualifizierter Handwerker kam auf 7 Pence täglich bei Kost und Logis, 12 Pence bei unabhängiger Lebensführung. (Alle Daten aus Forgeng.) Die aus der Corsini-Korrespondenz bekannten Preise von 4 d bzw. 6 d für einen „Inlandsbrief“ von Exeter nach London waren also Tarife, die sich wirklich nur Handelshäuser leisten konnten – Geburtstags- oder Weihnachtsgrüsse von normalen Arbeitern lagen bei diesen Gebühren noch weit in der Zukunft.

      Heute nicht mehr geläufige Währungseinheiten, die aber bei Renaissancebriefen noch eine Rolle spielen, sind beispielsweise Crown (5 Shilling), Tester (6 Pence) und vor allem Groat (4 Pence).

      Zu diesem Thema gab es früher einen Anhang zur Numismatik der elisabethanischen Ära, der wegen meines zunehmenden Interesses an englischen Münzen inzwischen in einer eigenen Sektion unter dem Hauptthema Grossbritannien aufgegangen ist.


Fussnoten:

  1. Wortley Hall ist heute ein → Hotel – ein repräsentatives Herrenhaus auf einem 26 Acres (ca. 10,5 ha) grossen Grundstück.
  2. → Bevölkerungsentwicklung Londons.
  3. „Civil War“ bezieht sich auf den → English Civil War, eine Serie von drei Bürgerkriegen zwischen 1642 und 1651.

Literatur:


Abb. 1

Abb. 2

Abb. 3

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Erste Veröffentlichung am 8. November 2020, letzte Bearbeitung am 19. Juli 2023.


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